Warum Over-Entertainment mehr schadet als nutzt

In einem großen Hundeforum gibt es den Thread „Was habt Ihr heute mit Euren Hunden gemacht?“ Dort wetteifern die Nutzer, wer seinen Hund mehr entertained:
„Morgens anderthalb Stunden Spaziergang mit ein bisschen Apportieren, mittags kleine Schnüffelspielchen im Garten, abends eine Runde Agility auf dem Hundeplatz und abends noch eine „kleine“ Löserunde von einer Stunde mit ein paar Unterordnungsübungen.“, solche Beschreibungen finden sich dort zuhauf.

Ein Traum-Hundeleben?

In Diskrepanz zu diesem scheinbaren Traum habe ich zunehmend mehr Hunde im Training, die nervös sind, hibbelig, nicht abschalten können. Die keine Ruhe finden, Fehlverhalten entwickeln, Bewegungsreizen hinterhergehen – ungeachtet, ob es Schmetterlinge, rollende Bälle oder Radfahrer sind. Die beim Spaziergang völlig außenfokussiert sind und für ihren Besitzer nicht ansprechbar.

Zufall? Mit Sicherheit nicht.

Ich behaupte, das größte Problem ist, dass Hunde heutzutage zu viel beschäftigt werden.
Während Hunde vor einiger Zeit vor allem das Bewachen von Haus und Hof hatten und sonst nur „nebenher“ gelaufen sind, haben Sie an Bedeutung als Sozialpartner und Familienmitglied gewonnen. Als solche möchten wir sie selbstverständlich zufrieden stellen und ihren (vermeintlichen) Bedürfnissen nachkommen. So gehen wir davon aus, dass unsere Vierbeiner, damit sie sich nicht langweilen (und weil es dem Menschen natürlich auch Spaß macht), ordentlich Programm brauchen.

Montags Agility, Dienstags Obedience, Mittwoch Mantrailing, Donnerstag Apportieren, am Freitag eine Stunde Hundeschule….und daneben noch Spaziergänge, auf denen die Vierbeiner ebenfalls beschäftigt werden – das ist keine Seltenheit.
Gerade Besitzer von „Arbeitshunden“, die als Familienhunde an Beliebtheit gewonnen haben, bekommen früh gesagt: „Oh, DEN musst Du aber auslasten.“ Ja, das ist richtig.

Auslastung ist wichtig. Ruhephasen aber genauso. Und das ist der entscheidende Knackpunkt.

Das Ruhebedürfnis eines Hundes liegt bei ca. 17-20 Stunden pro Tag. Diese Zeit braucht der Hund zur Regeneration, damit das körpereigene Stresssystem „herunterfahren“ kann und ein Hund ausgeglichen ist. Zu viel und zu schnelle Auslastung fahren einen Hund „hoch“ – hat er zu wenig Ruhezeit, kann das Gehirn kein chemisches Gleichgewicht herstellen – der Hund wird unausgeglichen und findet keine Ruhe.
Die verbleibende Wachzeit von 4 – 7 Stunden ist wohlgemerkt aber nicht gleichzusetzen mit Aktivitätszeit, in der der Hund beschäftigt werden sollte.
Zur Wachzeit zählen auch Phasen, in denen der Hund in der Wohnung mit seinem Menschen die Räume wechselt, draußen im Garten liegt und Außenreize wahrnehmen und darauf reagieren kann etc.
Ruhephasen hingegen zeichnen sich dadurch aus, dass der Hund auch wirklich ruht und nicht immer wieder mit Reizen konfrontiert wird. Das heißt, dass ein Hund, der an den Arbeitsplatz mitgenommen wird, dort nicht unbedingt seinem Ruhebedürfnis nachkommen kann.

Häufig haben Hundehalter, wenn sie einen hibbeligen Hund haben, das Gefühl, sie müssten ihn noch mehr auslasten. Also wird der Spaziergang verlängert, oder eine zusätzliche Aktivität eingebaut. Oftmals sind die verwundert, dass auch mit diesen Maßnahmen der Hund noch nicht ausgelastet genug scheint, und nehmen weitere Aktivitäten dazu.
Dabei ist das Problem oft nicht, dass der Hund zu wenig macht, sondern schon längst zu viel. Durch weitere Aktivitäten bekommt der Hund noch weniger Ruhe – und sein Stresssystem kann sich noch weniger regenerieren. Die Symptome verschlimmern sich immer weiter.

Was der Weg aus der Problematik ist?

Zunächst einmal sollte das tägliche Programm deutlich reduziert werden:
Kleinere Runden, weniger Aktivitäten, längere Ruhephasen. Lassen Sie Ihren Hund auf Spaziergängen auch einfach mal Hund sein und in Ruhe „Zeitung“ lesen, beschäftigen Sie ihn nicht zusätzlich mit Spielzeugen, Unterordnungsübungen etc.
Des Weiteren sollten Sie kontrollieren, dass Ihr Hund im Haus auch wirklich zur Ruhe kommt, z.B. durch das Schicken auf eine Decke oder gegebenenfalls den Einsatz eines Kennels.
Schnelle Spiele (besonders Ball-/Frisbeespiele) sollten durch wohl dosierte, ruhige Teamarbeit oder Schnüffelspiele ersetzt werden. Schnelles Agility kann durch ruhige Gerätearbeit ersetzt werden.

Viele Halter machen sich Sorgen, dass Ihr Hund diese Umstellung nicht ertragen kann, ohne völlig aufzudrehen. Es kann tatsächlich kurz zu einer „homöopathischen Erstverschlimmerung“ in den ersten Tagen kommen. Halten Sie trotzdem dieses Programm mehrere Wochen durch! Sie werden überrascht sein, dass Ihr Hund, statt aufzudrehen, darunter entspannen kann. Auf Dauer kann das Programm dann wieder langsam und wohl dosiert (!) erhöht werden. Wenn Sie merken, dass Ihr Hund wieder unruhiger wird, reduzieren Sie es wieder.

Prophylaktisch können Sie immer mal „Langeweile-Tage“ einbauen, an denen Sie nur kurze Runden ohne viel „Bespaßung“ mit Ihrem Hund gehen. Auch solche Tage sollten von Ihrem Hund auszuhalten sein, ohne, dass er „nörgelig“ wird. Dabei brauchen Sie auch kein schlechtes Gewissen zu haben – ganz im Gegenteil – denn:
1.) Ist für uns auch nicht jeder Tag ein Sonntag. Auch wir haben Tage, die nicht unseren Traumvorstellungen entsprechen(z.B. Arbeitstage Smilie: ;) ) und müssen uns mit diesen arrangieren – das darf Ihr Hund somit also auch.
2.) Tun Sie sich selbst damit einen Gefallen z.B. für den Fall, dass Sie einmal krank sind und für einige Tage keine größeren Runden gehen können. Hat Ihr Hund gelernt, dass es auch Tage ohne viel Action gibt, kann er dieses besser tolerieren, ohne, dass er Ihnen die Wohnung umgestaltet.

Wie viel Aktivität einem Hund generell gut tut, kann nicht pauschal gesagt werden und ist im Einzelfall zu prüfen. Einige Hunde sind extrem schnell „hochzufahren“, bei diesen sollte besonders auf nur kurze Aktivitätsphasen und hingegen lange Ruhephasen geachtet werden.
Andere Hunde können hervorragend zur Ruhe kommen – bei diesen ist die Gefahr geringer, dass sie zu „Beschäftigungsjunkies“ werden.

Wenn Sie einen Hund haben, der generell sehr hibbelig ist, trotz allerlei Auslastung nicht zur Ruhe kommt, scheinbar immer mehr fordert oder gar problematisches Verhalten entwickelt, begehen Sie nicht den Fehler, weiteres Programm „aufzufahren“.

Möglicherweise machen Sie nicht zu wenig – sondern in gutem Glauben zu viel.

Kategorie(n): Allgemein, Gesundheit, Training

4 Antworten auf Warum Over-Entertainment mehr schadet als nutzt

  1. Hallo, danke, für diesen Artikel. Ich sage das oft meinen Vereinskollegen beim Training. Wir machen Breitensport ( in Deutschland heißt es Turnier Hundesport), und werde oft belächelt. Mache wissen es hält besser. Es hat sich die Hundegesellschaft verändert. Hunde stopfen heute „soziale“ Löchetstreichel wir unsere Hunde bis sie haarlos sind, werfen in Unmengen Leckerli und meinen, wie du schreibt, wir müssen unseren Hund permanent bespaßen und ihnen „gut tun“. Vielleicht resultieren daher auch die vielen „allergischen“ Reaktionen. Der Hund darf nicht mehr Hund sein und ist mit unserem Menschenleben über fordert. Nun ja, mit meinen Gedanken könnte man auch viele Seiten füllen. Auf jeden Fall bin ich bei diesem Artikel ganz bei dir. Ganz liebe Grüße aus Österreich. Hanni Wurm

      Johanna Pelz sagt:

      Danke für Deinen Kommentar, Hanni!
      Ich finde es toll, wenn Menschen wie Du, die Hundesport machen im Blick haben, ob es Ihrem Hund dabei gut geht, oder wann es zu viel „Bespaßung“ ist. Weiter so!
      Im Übrigen kann ein hohes Stresslevel über einen längeren Zeitraum tatsächlich dazu führen, dass ein Hund Allergien entwickelt, um Deine Aussage wörtlich zu nehmen.

      Herzliche Grüße!

  2. Hallo Johanna,

    vielen dank für diesen, so wahren Artikel, Du sprichst mir aus der Seele!
    Wir dürfen uns stolze Besitzer eines 7-jährigen Aussies nennen und haben genauso wie Du beschrieben hast ihn groß gezogen.

    Nachdem er mit 12 Wochen iw. schon alles konnte, habe ich angefangen ihn ruhen zu lassen, lernen zu ruhen und einfach Welpe sein zu dürfen.
    Unsere Kids waren zu dem Zeitpunkt 7 und 9, selbst diese mussten ihn schlafen lassen, wenn sie z.B aus der Schule kamen.
    Heute ist Mylo mit Abstand der ausgeglichenste Aussie, den ich in meinem Umfeld kenne und das sind einige. Da gibt es Kläffer, Frisbeejunkies und einfach „Flummis“, die nur überdreht sind.
    Er begleitet mich zu meinen Pferden, kommt mit, wenn ich ausreite und ist einfach zufrieden, auch wenn ich mal krank bin und nur eine Minirunde drehe oder er einfach mal einen Tag im Garten verbringen muss.

    Liebe Grüße
    Angela Wiese

      Johanna Pelz sagt:

      Hallo Angela,

      vielen Dank für Deinen Kommentar. Es klingt so, als hättet Ihr alles richtig gemacht. Smilie: :)
      Es freut uns immer wieder ganz besonders, wenn gerade bei den Arbeitsrassen früh genug auf ausreichend Ruhezeiten geachtet wird.

      Herzliche Grüße,
      Johanna

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